„Denn wer da hat, dem wird gegeben, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ Mt 25, 29
„Wer hat, dem wird gegeben“ ist in der Soziologie auch bekannt als der Matthäus-Effekt, da der Text aus eben diesem biblischen Buch stammt. Doch in diesem Spruch bzw. in dieser Geschichte steckt viel mehr als nur ein soziologisches Phänomen: Bei der Geschichte im Matthäus-Evangelium handelt es sich um das Gleichnis von den anvertrauten Talenten:
Ein Reicher, der auf Reisen war, verlangt nach seiner Heimkehr von seinen drei Knechten Rechenschaft über das ihnen anvertraute Kapital. Zwei Knechte haben es geschafft, das ihnen anvertraute Kapital zu verdoppeln, während der Dritte seines aus Angst, es zu verlieren, vergraben hatte. Die ersten beiden Knechte werden belohnt, der Dritte wird entlassen und für immer fortgeschickt. Der Dritte wirft seinem Herrn vor, dort zu ernten, wo er nichts gesät habe. Also er fordere nur, aber setze nichts dafür ein. Diesen Vorwurf weist der Herr von sich.
Es wird also eine sehr kapitalistische Welt entworfen, in welche der Leser des Gleichnisses gezogen wird. Der Herr ist nicht im Lande und die Knechte sollen nun mit dem wirtschaften, was sie erhalten haben, was ihnen anvertraut wurde. Es gibt Superreiche, die mehr zurückbekommen, als sie zuvor dagelassen haben (Die ernten, wo sie nichts gesät haben). Dann gibt es Diener, die mit aller geschäftlichen Härte wirtschaften. Und letztlich auch solche, die vor Angst um ihren Arbeitsplatz handlungsunfähig sind.
Diese kapitalistische Welt mag den Leser auch an die Zustände in den Innenstädten und Einkaufszentren der Welt gerade zur Weihnachtszeit erinnern. Es dominiert der Konsum, der Stress und das Kapital.
Eine religiöse Deutungsmöglichkeit der Geschichte wäre, dass Matthäus dies als Gleichnis für die Rechenschaft aufstellt, die Gott eines Tages im Endgericht von uns Menschen fordert. Rechenschaft über sein Leben ablegen zu müssen und darüber, wie man mit den Gaben Gottes umgegangen ist, erscheint daher doch als eine sehr bedrückende Vorstellung. Das Gleichnis hat also nicht ohne Gründe seine Wege in die Soziologie gefunden, auch wenn der sogenannte Matthäus-Effekt eher auf ungleiche Bildungschancen und die ungerechte Vermögensverteilung innerhalb einer Bevölkerung abzielt. Im biblischen Kontext ruft das Gleichnis eher dazu auf, Verantwortung zu übernehmen und die Gaben, die man erhalten hat, aktiv zu nutzen, um die Welt, aus religiöser Sicht als Schöpfung verstanden, aktiv zu gestalten und an ihr teilzuhaben.
Das Gleichnis kann man daher auch auf unsere Welt übertragen: Wir finden uns ungefragt in einer Welt wieder und müssen unser Leben meistern, das eine einmalige, das wir haben.
Ob es letztlich einen Gott gibt, bildlich gesprochen, ob der Herr im Gleichnis überhaupt jemals zurückkehren wird, um zu überprüfen, was ich mit seinen Gaben gemacht habe, ist schnell gefragt. Es bleibt aber dennoch die langwierige Herausforderung, aktiv das eigene Leben zu gestalten und „etwas daraus zu machen“, da wir irgendwann über unser Handeln Rechenschaft ablegen müssen, da irgendwann der Herr im Gleichnis zurückkehren könnte oder da unser diesseitiges Leben eines Tages definitiv zu Ende sein wird. So lässt sich auch die Beziehung vom Menschen zu Gott darstellen. Doch wie ist es andersherum? Kann man Gott nicht vorwerfen, was der dritte Knecht seinem Herrn vorwirft? „Du forderst nur und gibst nicht!“ Wie wir diese Frage beantworten, entscheidet auch, wie wir mit Gott und unserem Leben umgehen wollen. Wer meine, er habe nichts zu seinem Leben dazubekommen, wird sich selbst der Nächste bleiben. Wer nicht sieht, dass er mit dem Leben beschenkt wurde, kann auch nicht die Bedeutung vom Glauben, von der Liebe und letztlich auch nicht von der Hoffnung durchdringen.
Nehmen wir uns zum Schluss einen kurzen Moment Zeit, um darüber nachzudenken:
Wie gehe ich mit mir anvertrauten Dingen um? Wie könnte es mir gelingen, für mehr Gerechtigkeit und Solidarität zu sorgen? Was ist für mich die wahre Botschaft von Weihnachten?
Weihnachten sollte sich nicht zu einem Konsumfest verwandeln, sondern seinen wahren Charakter erhalten. Der Charakter von Weihnachten dreht sich doch nicht um das gegenseitige Schenken mit der Erwartungshaltung, das der andere einem auch ja etwas gleichwertiges (oder besseres) schenkt, sondern es geht darum, Erwartungsmuster zu durchbrechen und von ganzem Herzen zu zeigen, dass mit der Geburt Christi das Reich Gottes angebrochene Wirklichkeit geworden ist; und das eben nicht nur im Kreis der Familie, sondern auch vor Fremden und Bedürftigen.
„Was wahre und ungeheuchelte Liebe ist, wird in dieser Welt immer umstritten bleiben, und auch der beste Christ macht sich in Sachen Agape [göttliche, wahrhafte Liebe] wohl selten etwas vor. Wie oft meinen wir zu lieben und verfolgen doch, bewusst oder unbewusst, nur recht eigennützige Interessen!“
Dr. Peter Kliemann, aus Glauben ist menschlich. 19. Auflage 2020, S. 152