Es heißt, die Ferien seien dazu da, den eigenen Horizont zu erweitern. Daher packte ich allen nötigen Vorrat in meinen Rucksack ein und bereitete mein Fahrrad auf eine große Reise vor. Mein Ziel: Die Halde Norddeutschland, nordwestlich von Moers.
Nach einigen Umwegen – und einigen hundert Treppenstufen – stand ich nun auf meinem Ziel. Die Halde Norddeutschland ist eine der höchsten Erhebungen der gesamten Umgebung. Ich blicke herum und suche mir den höchsten Punkt der Halde, den ich finden kann und steige hinauf. Die Erhebung selber, welche wie ein einziger Felsen am Strande ist, hat schon etwas Atemberaubendes, ist aber nicht der das Sonderbarste, das man erblickt. Nach einigen Minuten des Staunens über die Halde und deren ruhige friedliche Atmosphäre richtet sich mein Blick auf den atemberaubenden Horizont um mich herum: Es sieht tatsächlich so aus, als stünde ich gerade im Mittelpunkt eines riesigen runden Tellers.
Dann blicke ich wieder zur Halde, auf der ich stehe. Und da bemerke ich, dass ich als Mensch auf der Halde stehe, ich aber selbst nur die Details um mich herum erblicken und erkennen kann. Die (wenigen) Menschen in meiner Nähe kann ich nur als detaillose Individuen wahrnehmen, welche ihrer Freizeitbeschäftigung nachgehen. Den Vogelschwarm am Himmel identifiziere ich bloß als hintereinander gereihte Striche, die sich irgendwie in irgendeiner Formation bewegen. Die weite Ferne kann ich nicht mehr ganz erblicken. Ich schaue nur noch auf den Horizont und bemerke, wie ich vor mir noch einen Strauch erkennen kann; unter mir das Gras, aber je weiter ich hinausschaue, desto kleiner werden die Details, desto kleiner werden die Bäume und desto kleiner werden mein Blick- und Gedankenfeld. Aus der Ferne sehe ich noch kleine, manchmal gerade, manchmal kurvige Linien, auf der sich kleine quadratförmige Körper bewegen: Landstraßen? Autos?
Ich richte meinen Blick weiter. Andere Halden in der Nähe erheben sich ebenfalls wie Felsen von einem ebenen Strand. Unterschiedliche grüne Punkte erkenne ich, die eine geschlossene Decke bilden: Bäume? Und letzten Endes sehe ich hinauf und erblicke die Grenze meines Blickfelds: den Horizotnt. Auf dieser Grenze entdecke ich schließlich einen kleinen Punkt, der sich höhenmäßig leicht vom Horizont unterscheidet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich beginne mir selbst Fragen zu stellen: Wie lange dauert es, bis ich mit meinem Fahrrad dorthin gelange? Kann ich diesen Punkt ohne Karte finden? Gehört dieser Punkt schon zu den Niederlanden? Und vor allem: Was sehe ich, wenn ich auf dieser kleinen Erhebung bin und abermals hinausblicke? Sehe ich dann die Niederlande oder noch deutsches Staatsgebiet? Der Horizont hinter dem Horizont? Und wenn ja, was ist dann, wenn ich wieder eine kleine Erhebung entdecke und mich dorthin bewege: Was sehe ich dann? Den Horizont hinter dem Horizont des Horizonts? Ist das Gebiet dann nierderländisches Staatsgebiet? Wie viele Kilometer sind es bis dorthin? Das sind alles Fragen, die ich gerne beantworten möchte, wozu ich aber (momentan) nicht die nötige Zeit habe.
Ich drehe mich dann leicht nach rechts und entdecke in der weiten Ferne eine Erhebung. Hinter dieser Erhebung entdecke ich noch eine Erhebung und dann noch eine Erhebung, bis ich nur noch nebelartigen Schauer erblicke. Ich beginne mir wieder Fragen zu stellen: Was ist hinter der letzten Erhebung? Wieder eine Erhebung? Oder eine Stadt? Ein Dorf? Ein Wald? Nichts? Der Nebel birgt etwas geheimnisvolles, mystisches, als wolle man diesen Ort hinter dem Hügel vor den Gefahren des Menschen bewahren.
Schließlich drehe ich mich weiter und entdecke in der weiten Ferne einen großen Turm, den man aber durch die Distanz kaum noch sehen kann. Der Turm erscheint wie eine aufrechte Nadel, welche am Horizont steht – wenn es denn tatsächlich ein Turm ist. Ich blicke konzentriert auf diesen Turm, stelle mir vor, dass ich sofort mein Fahrrad nehme und dorthin fahre, auf diesen Turm klettere und den Horizont hinter dem Horizont erblicken kann. Was würde mich dort erwarten? Was ist dort? Ich erkenne die Ackerfelder, Wälder, Seen, Straßen, quadratische Lagerhäuser und wieder den Nebel um den Horizont, als wolle man den Horizont hinter dem Horizont verdecken.
Nun erkenne ich den Entdeckergeist in mir. Die Kraft, die mich bewegen möchte, dorthin zu fahren und die Sachen dort zu erkunden. Die weite Ferne hat etwas Atemberaubendes, aber macht einen auch ängstlich. Denn der Horizont führt uns vor Augen, wie klein und gebrechlich jeder von uns ist. Er zeigt uns aber auch die schier unendlichen Möglichkeiten, Sachen neu zu entdecken und zu erforschen. Ich entsinne mich dabei an eine Anekdote: Der englische Seefahrer und Entdecker James Cook lebte als Kind in armen Verhältnissen und musste in einem Ladengeschäft arbeiten. Als er sich langweilte, erblickte er im Augenwinkel etwas. Sofort rannte das kleine Kind hinaus und erblickte an einem Steg die große Weite des Meeres. Von diesem Moment an fasste er sein Entschluss, Seefahrer zu werden.
Ich erkannte nun, was die großen Entdecker dieser Zeit, Magellan, Kolumbus, Vespucci, Cook angetrieben hat: der Blick in die weite Ferne. Der strahlende, atemberaubende, aber auch zugleich mystische Horizont, dessen Größe eine gewaltige Angst auszulösen vermag. Und den Willen, diese Angst zu bezwingen, gleichsam auf den Horizont aufzusteigen und auf der anderen Seite seinen Blick zu fassen. Das ist das Ziel.
Oder, wie es einst der Astrophysiker Stephen Hawking in seiner letzten Botschaft kurz vor seinem Tod formulierte: „Denkt daran, in die Sterne zu sehen – und nicht auf eure Füße.“